Gipfelerlebnis

Gehören auch Sie zu denen, auf die Berge eine faszinierende Anziehungskraft haben?
Ich zähle mich jedenfalls dazu.
In jungen Jahren lockte mich die Neugierde zu erfahren, was meinen Bruder so von den Bergen schwärmen ließ.
So unternahm ich mit ihm so manche Tour in diese wunderbare Welt, die uns Natur pur erleben lässt und an den Ort führt, wo sich Himmel und Erde berühren.
Was sich ganz tief in mein Gedächtnis eingeprägt hat, war der herrliche Sonnenaufgang auf dem Hochkönig.
Wir hatten in einer Hütte auf fast 3000 m Höhe übernachtet. Es war tags zuvor ein sehr anstrengender, schweißtreibender Aufstieg und die letzten Kraftreserven wurden mobilisiert. Nach der erholsamen Nachtruhe trat ich früh morgens vor die Tür. Mein Bruder war schon da. Beide waren wir total überwältigt von diesem Anblick der aufgehenden Sonne, die ihre Strahlen über das Panorama der umliegenden Berggipfel warf. Wir standen wie gebannt. Es war wie ein Fenster, das sich in die Transzendenz öffnete.  
Im Herzen formten sich die Worte: „Mein Gott – wie groß bist Du – wie schön ist Deine Welt.“ Wir konnten uns kaum sattsehen an diesem grandiosen Anblick und uns schwer von diesem erhabenen Ort trennen.
Still beglückt und in uns gekehrt begannen wir den Abstieg über die gleißenden Schneefelder.

In den Texten des Evangeliums und auch in den Psalmen begegnen uns immer wieder die Berge als Ort der Gottesbegegnung. Ebenso wählten auch Dichter und Schriftsteller den Berg als Thema.
Ich denke da an das Taborerlebnis, von dem uns das Evangelium. berichtet. Ich kann mir die Ergriffenheit der Jünger vorstellen bei der Verklärung Jesu – und dass sie von diesem Ort nicht mehr weg wollten.  
Beim Psalmengebet erinnere ich mich ab zu an mein Gipfelerlebnis - und zwar besonders bei Psalm 19. Da ist es dem Psalmisten gelungen, das herrliche Ereignis des Sonnenaufgangs in Worte zu kleiden:
„Der Sonne hat Gott am Himmel ein Zelt aufgeschlagen. Am Morgen kommt sie strahlend heraus wie ein Bräutigam aus seiner Kammer. Siegesgewiss wie ein Held beginnt sie ihren Lauf….“
Die Berge – sie können einem wirklich zum Freund werden, so wie es auch A. Exupéry ausdrückt: „Mein Freund, ich brauche Dich wie eine Höhe in der man anders atmen kann.“

Vielleicht erinnerte sich auch an so ein Gipfelerleben der in Kerkerhaft gefangene Alfred Delp, als er in einem Brief mit gefesselten Händen schreibt: „Ich lebe hier auf einen sehr hohen Berg. Hier oben treffen sich menschliche und göttliche Einsamkeit zu ernster Zwiesprache. Man muss helle Augen haben, sonst hält man das Licht hier oben nicht aus, man muss schwindelfrei sein, der einsamen, schmalen Höhe fähig, sonst stürzt man ab, wird ein Opfer der Kleinheit und Tücke...“
Die Berge, ich kann sie jetzt nicht mehr besteigen, aber in meiner Erinnerung bewahre ich sie als einen Schatz, als eine Quelle der Freude und des Lichtes.

Sr. Silvia Liebl

Foto: Sepp Wurm

"Wenn es dir gut tut, dann komm!"

(Franz von Assisi)